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21.11.2023 09:29:41
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Regierungsberater warnen bei kritischen Gütern vor Erpressbarkeit
Von Andrea Thomas
BERLIN (Dow Jones)--Berater des Bundeswirtschaftsministeriums warnen Deutschland und Europa vor Erpressbarkeit angesichts der unzureichenden Diversifizierung bei kritischen Gütern. Die Ökonomen plädieren in einem Gutachten, dass aufgrund der in Deutschland und der Europäischen Union (EU) angestrebten Verringerung der Abhängigkeiten bei Rohstoffen und kritischen Gütern ein europäisches Büro für Versorgungssicherheit (European Supply Security Office) eingerichtet werden sollte. Dieses Büro sollte nach Ansicht des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium die Sammlung von Daten zu Lieferketten harmonisieren, einheitliche Stresstests entwickeln und Auswirkungen nationaler Politiken auf den Binnenmarkt beobachten.
"Sowohl die USA als auch die EU verstärken Anstrengungen, ihre strategische Autonomie abzusichern und Erpressbarkeiten aufgrund einseitiger Abhängigkeit zu reduzieren. Dabei stehen China und Russland im Fokus, aber die Liste potenziell problematischer Lieferländer ist in den letzten Jahren länger geworden", heißt es in dem Gutachten. Lediglich ein Achtel der Weltbevölkerung lebe laut neuesten Daten in liberalen Demokratien, während ein Anteil von mehr als 70 Prozent in Autokratien lebe.
Die Einrichtung eines europäischen Büros soll den Ökonomen zufolge die Kohärenz der nationalen Politiken in der EU gewährleisten, damit die Integrität des Binnenmarktes nicht gefährdet werde, wie der Federführende des Gutachtens, Professor Gabriel Felbermayr von der Wirtschaftsuniversität Wien, erklärte.
Freihandelsabkommen und Förderung auf Auslandsinvestitionen
Um das Entstehen von Abhängigkeiten zu vermeiden, setzt sich der Beirat außerdem für geeignete ordnungspolitische Rahmenbedingungen und Maßnahmen ein, die einer zu geringen Diversifikation der Unternehmen entgegenwirken sollen. Freihandelsabkommen gehörten den Experten zufolge dazu, ebenso wie die Förderung und Erleichterung von Auslandsinvestitionen, um alternative Lieferquellen zu erschließen. Als weitere Maßnahme zur Risikominderung schlägt der Beirat auch die Schaffung spezieller Märkte für Versorgungssicherheit - in Analogie zu Kapazitätsmärkten - vor, die die Versorgungssicherheit der Bundesrepublik und der EU verbessern sollen.
Skeptisch sieht der Beirat die Erstellung von auf objektiven Maßstäben basierenden Listen zu kritischen Gütern, Technologien oder Sektoren, auf deren Basis dann über eine finanzielle Unterstützung durch den Staat oder außenwirtschaftspolitische Maßnahmen entschieden werden sollte. "Was als knapp oder strategisch kritisch gilt, ist kontextabhängig und zeitveränderlich. Daher bleibt die Erstellung solcher Listen eine inhärent politische Aufgabe", sagte der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats, Professor Eckhard Janeba von der Universität Mannheim. Der Beirat empfiehlt, die Prozesse und Kriterien transparent zu machen, um eine überschießende Einflussnahme von Partikularinteressen zu verhindern.
Mit Blick auf Europas Abhängigkeiten verweist das Gutachten auf 779 Produkte mit einem Importwert von 3,5 Milliarden Euro, die aus höchstens drei unterschiedlichen Lieferländern kommen. Sie machten 2019 0,2 Prozent des gesamten Importwerts aus. Allerdings fielen wichtige Industrierohstoffe wie etwa Blei, Thallium, Barium, Beryllium, Lithium oder Platin in diese Gruppe, so das Gutachten.
Deutschland nicht nur gegenüber China verwundbar
Die Experten erstellten auch Simulationen für eine Risikominimierung in verschiedenen Sektoren vom Ausland. Besonders schmerzhaft wäre demnach eine Entkoppelung Deutschlands im Bereich von Elektronikprodukten wie Chips aus den wichtigsten asiatischen Herstellerländern (Taiwan, China, Japan und Korea). "Hier würde kurzfristig ein realer Wertschöpfungsverlust in der Höhe von circa 13 Milliarden Euro entstehen", heißt es in dem Gutachten. Ähnlich hohe Verluste entstünden, wenn keine Importe von IT-Dienstleistungen aus USA mehr möglich wären.
Die sich nun vollziehende Abkoppelung von russischen Energieprodukten - Gas, Erdöl - sei einer jüngsten Studie zufolge mit rund 20 Milliarden Euro noch teurer.
"Die Studie zeigt, dass die deutsche Volkswirtschaft nicht nur von Rohstoff- und Industrieimporten abhängig ist, sondern auch von Dienstleistungsimporten. Außerdem existieren makroökonomisch relevante Verwundbarkeiten nicht nur gegenüber China, sondern ebenso gegenüber anderen großen Volkswirtschaften", heißt es in dem Gutachten. Diese Umstände sollten nicht unterschlagen werden.
Kontakt zur Autorin: andrea.thomas@wsj.com
DJG/aat/sha
(END) Dow Jones Newswires
November 21, 2023 03:30 ET (08:30 GMT)
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